.:: Galatella die Brohlbachnixe ::.

Eine Legende von Nikolaus Elmar



Erstes Kapitel



DAS STUMME KIND



Brohltalia est omnis divisa in partes quattuor:

Cempenic-Country, Cisse-Ciddy, B.B. sive Boroughbroole, etiam Broole Harbour. Doch Sie sprechen ja Deutsch, verehrte Leserinnen und Leser! Wie bei uns unter den Jüngeren nur noch einige Volkskundler! Seit 2O72 ist „Juniwörsel Läddin“ Schul- und Amtssprache. Aber das Wetter dürfte sich noch nicht verändert haben. Und so gibt es Schnee und Winterstürme und staken vom Sturm diese Nacht die neospätmykenischen Paradendrolithgesimsteile der Futurismusstraße grau im weißen Schnee, matt und blass, als der „heilige Rest“ bei fahlem Mond zur Kirche hetzte. In unserer Epoche des Aufbruchs und der kreativen Neuanfänge sind alle Fundamentalisten von ihrem seelischen Leiden erlöst, benötigen aber jährliche Nachbehandlung - was die morgendliche Jagd durchs Dunkle beweist. Dieses Mal erreichen sie ihre Kultstätte unbemerkt, und während sie dort statt der neuen quellenlosen Beleuchtung „Nirwanesk“ - störende Lampen gibt es bei uns nicht mehr - ihre altertümlichen, sehr teuren Bienenwachskerzen entflammen und so wiederum das europäische Kulturregelungsgesetz verletzen, ergötzen sie sich bald in kitschiger Sentimentalität an den noch kurz vor Sonnenaufgang golden-rot erglühenden Fensterbildern ringsum, auf denen noch Papst und Kaiser zu sehen sind, als gäbe es keine plurale Grundverpflichtung.

Seit Pius` XIII. Enzyklika „Fuit Flop“ spricht der Priester nicht mehr aus der Mitte des Volkes heraus, nicht mehr zugleich mit allen, sondern muss am Altare opfern, wo die Messdiener knieen. Die Nonninas, ganz junge Mädchen in hellblauer Tracht, erbitten das Opfergeld und halten beim Opfergeschehen auf silbernen Stangen goldgeschmiedete Mysteriensymbole wie Lamm und Taube und zwei ineinanderverschlungene Herzen empor, die von Schwert und Dornenkrone versehrt werden. Der reaktionär gewordene, nunmehr lateinische Kult, neu erfrischt dank griechisch-orientalischer Coloraturen, - Kirchenjuristen sollten das alles unbedingt wieder ausmerzen! - ist oft umrankt mit russischen, polynesischen, nicht minder altdeutschen Gesängen: „Tauet Himmel...“

Jene Kultstätte von B.B. haben die weißhäutigen Nationalkatholiken, später „Liberal Global Catholics“ genannt, den dunkelhäutigen Romkatholiken zurückgegeben, im Grunde aus wachsendem Desinteresse.

Ein stummes Kind, verantwortungsloser Weise nicht rechtzeitig abgetrieben, öffnet vor Glück die Lippen, als könnte es singen - vor Glück, denn „schnell flog Gottes Engel nieder, brachte diese Botschaft wieder“: ein anderes Menschenkind sei zur Miterlösung der Welt bereit.
Die Anhänger jener Mysterien verweigern die menschenfreundliche Immanenz oder Innenwendung, gebrauchen ein Wort, das Ihnen, verehrte Leserschar, noch geläufig war: In Ihrer Zeit wurde ja das Ende des Lebens thematisiert, so, als ob jener Nichtverhalt irgendeine Bedeutung hätte. Gestatten Sie, dass ich meinen Schreibfluss unterbreche, um meine Anti-Öde-Tropfen einzunehmen.... Danke!

Jetzt sehe ich das stumme Kind nach Hause schlittern. Das Straßenenteisungsgebläse blockiert offenbar wieder. Das Kind verschwindet in schäbigem Haus. Futurismusstraße eben!

Wahrscheinlich greift die Mutter jetzt wieder in die Papierbücherdatei und nimmt etwas von den bekenntniswütigen Abendländereien hervor: Da zieht ein kindischer Ritter nach dem heiligen Gral, da inszeniert Gott die Welt als sein Theaterstück, da schwelgen zwei Liebende unreflektierend in zauberischen Sommernachtsträumen, da verliert der Teufel die Seele eines unzufriedenen Gelehrten, weil dessen ursprünglichem Glückszweifel in aufkeimender Glücksahnung der Tod Recht gibt, da glänzen Mondnächte und ringeln Sterne hernieder, da wird der Dichter Franz Werfel in die Zukunft zitiert, um die postlapsale Weltformel, den Misslungenheitskoeffizienten, zu erfahren, und da räkelt sich ein anmutiges Nixlein im Geplätscher der Brohlbachwellen, als ginge das alles sie gar nichts an.

Tatsächlich, die Mutter hat das Werkchen des Aldericus aufgeschlagen und liest dem stummen Kind vor: „Galatella die Brohlbachnixe“.





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